Im Gespräch mit Melanie Hübers über die Auswirkungen unentdeckter persistierender frühkindlicher Reflexe bei Kindern
Melanie ist ausgebildete Diplompädagogin, Fachpädagogin für Hochsensibilität und Kinflex®-Reflextherapeutin. Sie arbeitet nicht nur in eigener Praxis, sondern auch an einer Schule als Teil des Multi Professionellen Teams (MPT).
Jahrelang arbeitete sie auch in der Familienberatung und kennt dadurch viele typische Situationen, mit denen Kinder und Familien konfrontiert sind.
An der Schule arbeitet sie mit bestimmten, oft von Lehrkräften als 'auffällig im Verhalten' bezeichneten Kindern. Ihre breite Expertise erlaubt es ihr, den Potenzialblick aufzusetzen und den Defizitblick auf bestimmte Situationen abzulegen.
Viele Eltern fragen sich ganz grundsätzlich, wie das mit den frühkindlichen Reflexen aussieht, denn fast niemand hat darüber gelesen. Das Thema frühkindliche Reflexe kommt meist erst dann ins Spiel, wenn davor schon einiges passiert ist. Wenn die Logopädie oder die Ergotherapie zwar durchgeführt ist, aber nicht zur erhofften Verbesserung der Lage geführt hat.
In unserem Gespräch erklärt Melanie was man unter persistierenden oder aktiven frühkindlichen Reflexen überhaupt versteht.
Wann sollte man sich als Eltern oder pädagogische Fachkraft mit persistierenden Reflexen befassen?
Viele Familien, die sich an Melanie wenden, haben oft schon lange Leidenswege hinter sich. Sie sind stark betroffen und auch emotional stark angeschlagen.
Oftmals hat einiges schon im Kindergarten und auch vorher im Kleinkindalter begonnen und es zieht sich dann bis in die Schulzeit hinein. Dort fällt das Kind vielfach wegen folgender Dinge auf:
- Das Kind könnte schöner schreiben.
- Das Kind könnte reiner schreiben.
- Das Kind müsste weniger verweigern.
- Das Kind arbeitet zu langsam.
- Das Kind ist zu rebellisch.
- Das Kind ist zu unkonzentriert, zu launisch und zu schnell abgelenkt.
Viel zu wenige der pädagogischen Fachkräfte aller Disziplinen so wie auch Kinderärzte wissen über Hochsensibilität bzw. persistierende frühkindliche Reflexe Bescheid.
Das führt oft dazu, dass bei bestimmten Verhalten zu herkömmlichen Methoden und Diagnosen gegriffen wird. Die Familie und das Kind werden zum SPZ oder ähnlichen Entwicklungsdiagnostischen Einrichtungen verwiesen.
Melanies Erfahrung nach kommen dann meist zwei Diagnosen heraus, die allerdings die Wurzel des Problems oft nicht erkennen und in weiterer Folge nicht zum gewünschten Erfolg führen. Im Gegenteil - das Kind bekommt dadurch einen Stempel aufgedrückt.
Dazu nennt Melanie uns im Gespräch Beispiele, wann Eltern, PädagogInnen oder Lehrkräfte bewusster auf Anzeichen achten könnten.
Welche typischen Diagnosen werden gestellt, die nicht unbedingt zutreffend sein müssen?
Melanies Erfahrung nach sind es die weit verbreiteten Diagnosen, die in den letzten Jahren durch hohe Verschreibungszahlen auffallen - AD(H)S oder Autismus. Aber auch eine Lese-Recht-Schreibschwäche oder ähnliche Lernschwächen werden oft als erste Diagnose gestellt.
Diese Diagnosen werden sicherlich nicht aus Jux gestellt, sondern sorgfältig erstellt. Hilfestellung für Kinder ist äußerst wichtig, dennoch - wenn sich bestimmte (durch die Therapie gewünschte) Effekte nicht einstellen, darf man sich noch weiter auf mögliche, noch aktive frühkindliche Reflexe besinnen.
Was sind frühkindliche Reflexe und wann 'schaden' sie?
Reflexe sind ja grundsätzlich was Gutes! Die Evolution kann nicht ohne sie funktionieren. Reflexe kann man lebenslänglich 'integrieren'. Das ist also schon mal die gute Botschaft!
Als Baby haben wir schon in der Schwangerschaft die ersten Reflexe, um überhaupt auf die Welt zu kommen, um dann zum Beispiel vom Rücken liegend uns umzudrehen - bis hin zum Aufrichtungsprozess, um gehen zu können.
Ähnlich wie beim Domino, kommt ein Reflex nach dem anderen, dh. jeder Reflex hat seine Bedeutung und möchte aktiv sein, möchte seine Funktion einsetzen. Nachdem seine 'Arbeit' getan ist, zieht sich der Reflex sozusagen wieder zurück. Er verlässt die Bühne, sodass der nächste wichtige Reflex auftreten kann.
Jetzt gibt es aber vorwitzige Reflexe, die sich nicht verziehen, die die Bühne nicht und nicht verlassen wollen und die verursachen dann eine Art Stau und Unruhe 'hinter der Bühne'. Dort warten schon Drehbuch-gemäß weitere Reflexe, die bereit sind, ihre Funktion zu erfüllen.
Je nachdem welcher Reflex hier weiterhin aktiv bleibt, obwohl er sich schon längst zurückziehen sollte und wie der Alltag beim einzelnen Kind aussieht, bewirkt dieser noch aktive Reflex mehr oder weniger große Probleme.
Können diese frühkindlichen Reflexe bewusst gesteuert werden?
Nein, der Name Reflex drückt aus, dass ein Reflex eben wie automatisch greift.
Ein gutes Beispiel dafür, dass Reflexe völlig 'automatisch' ablaufen und kognitiv nicht wirklich bewusst gesteuert werden, ist eine Situation beim Arzt: Der Arzt klopft uns aufs Knie und unser Bein flippt automatisch nach vorne, das kennen wir alle.
Unser Lidschlag ist auch so ein anschauliches Beispiel: da kommt eine Fliege oder Mücke auf uns zugeflogen, schon schließen wir die Augen als Abwehr zu.
Das Thema Konzentration ist ein weiteres Beispiel - nehmen wir eine Situation in der Schule oder dem Kindergarten an, wo etwas ausgeschnitten werden soll. Um die Schere festzuhalten, muss ich den Greif-Reflex nutzen.
Achte mal drauf, wie viele Leute den Mund dabei zusammenkneifen oder Lippen- und Zungenbewegungen machen währenddessen sie etwas ausschneiden? Das ist schon ein Anzeichen eines noch aktiven frühkindlichen Reflexes.
Und ja, es ist inunserem Beispiel nichts, was weh tut. Es ist nichts störendes, es ist einfach nur eine Bewegung in seinem oder ihrem Gesicht, das niemanden anderen stört. Aber trotz alledem ist es schon der erste Hinweis darauf, dass Reflexe noch aktiv sind, obwohl sie es nicht mehr sein sollten.
Was können die Auswirkungen sein?
Wenn wir gleich beim vorigen Beispiel bleiben, dann wirkt sich dies natürlich auch auf die Schrifthaltung und oft auch auf die Schreibweise oder das Schriftbild aus.
Das Kind schreibt zu klein oder zu groß. Es kann nicht in der Zeile bleiben. Das alles fängt vielleicht klein an, aber je höher man dann in der Schulstufe ist, desto gravierender werden die Auswirkungen, weil das Kind:
- nicht die Schnelligkeit im Schreiben hat
- es das Schreibn motorisch nicht einfach hinkriegt und ständig verspannt
- Buchstaben nicht flüssig schreibt
- wegen der langsamen Schreibart weder das Volumen der Arbeit noch
- die Arbeit selbst in einer zufriedenstellenden Art fertig bekommt
Selten ist es so, dass bei einem Menschen nur ein Reflex nicht integriert ist. Es gibt meist mehrere Reflexe, die noch aktiv sind und ihre Auswirkungen somit auch vermehren!
Wie bitte? Die Sitzordnung in der Klasse kann bei aktiven Reflexen negative Folgen haben?
Ja, absolut! Aus Lehrersicht ist es absolut verständlich, dass man die Sitzordnung in der Klasse immer wieder mal ändern oder alternativ gestalten will. Gruppenformation oder eine U-form sind da sehr beliebt - auch um die Kommunikation und den Klassenzusammenhalt zu fördern.
Wenn aber bei einigen Kindern bestimmte frühkindliche Reflexe noch aktiv sind, dann kann dieses ständige nach links oder rechts Drehen des Kopfes, um auf die Tafel zu blicken, negative Folgen haben.
Es kann beispielsweise der Flucht- und Lähmungreflex angesprochen werden. Beim Kind gehen dann 27 Antennen an, unbewusst ist es auf Gefahr gepolt, ist abgelenkt und dies wiederum verhindert, dass sich das Kind nicht auf das Unterrichtsfach konzentrieren kann.
Die Folgen daraus zeigen sich oft in schlechteren Noten, Aussagen, dass man träumt oder nichts mitkriegt und vielen anderen mehr.
Welche Gefühle löst das in Kindern aus?
Vielfach löst das eine ganze Menge unterschiedlicher Gefühle im Kind aus. Das Kind möchte und bemüht sich, aber der Körper scheint hier immer wieder zu 'sabotieren' - und das Kind weiß nicht, warum!
Ein schönes Beispiel, das Melanie diesbeszüglich im Gespräch erwähnt, sind Arbeiter-Handschuhe: Stell' dir vor, du trägst Arbeiter-Handschuhe. Diese wirklich großen und klobigen Dinger! Und du müsstest dir damit die Schnürsenkel binden. Du weißt natürlich, wie du Schnürsenkel binden musst, aber mit diesen riesigen unhantlichen Handschuhen will und will es dir nicht gelingen!
Das frustiert, nicht wahr?
Und ähnlich geht es eben Kindern und Jugendlichen, die keine Ahnung haben, dass ihr 'Unvermögen' in bestimmten Bereichen auf noch aktive Reflexe zurückzuführen ist, die sich schon längst vertschüssen sollten.
Dadurch sinkt das Selbstwergefühl. Es kommen viele Selbstzweifel auf. Kinder fühlen sich missverstanden und frustiert und häufig kommt es zu viel Frust, Wut und starken Gefühlsausbrüchen.
Am besten wir behalten das immer im Hinterkopf, wenn wir uns wieder mal über das Kinderverhalten ärgern. Es könnten ja auch diese vorwitzigen Reflexe daran beteiligt sein!
Melanie bietet Vorträge zu Hochsensibilität und persistierenden Reflexen an. Die im Gespräch erwähnte Checkliste findest du auf ihrer Webseite hier.
Sie ist jungen wie erwachsenen Menschen ein Leuchtturm und gibt in ihrer Arbeit, das Wissen um Hochsensibilität, Hochbegabung wie auch frühkindliche Reflexe weiter.
Melanie Hübers
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