Warum viele hochbegabte Frauen glauben, nicht begabt oder intelligent zu sein
„Ich? Hochbegabt? Niemals. Ich bin einfach nur fleißig.“
So oder ähnlich klingen die Gedanken vieler hochbegabter Frauen – selbst dann, wenn sie beeindruckende Leistungen vollbringen, komplexe Zusammenhänge mühelos erfassen oder außergewöhnlich kreative Lösungen entwickeln.
Hochbegabung scheint für sie ein Etikett zu sein, das nicht zu ihnen passt.
Aber warum ist das so?
In diesem Artikel geht es um die unsichtbaren Hürden, die viele begabte Frauen daran hindern, ihre eigene Intelligenz zu erkennen und anzunehmen. Es ist ein Thema, das viel mit gesellschaftlichen Erwartungen, Selbstwahrnehmung und inneren Mustern zu tun hat.
1. Weibliche Sozialisation: Anpassung statt Auszeichnung
Schon früh lernen viele Mädchen:
- Sei bescheiden.
- Sei nett.
- Fall nicht zu sehr auf.
Wer in der Schule besonders viel weiß oder sehr gute Leistungen bringt, wird nicht immer bewundert – manchmal sogar abgelehnt. Hochbegabte Mädchen erleben, dass soziale Zugehörigkeit oft wichtiger ist als intellektuelle Exzellenz. Die Angst, als „Streberin“ abgestempelt zu werden, führt dazu, dass sie sich anpassen und ihr Licht unter den Scheffel stellen.

2. Der stille Perfektionismus
Viele hochbegabte Frauen stellen sehr hohe Ansprüche an sich selbst – oft unbewusst. Wenn sie etwas nicht perfekt können, zählt es für sie nicht. Wenn ihnen etwas leichtfällt, kann es aus ihrer Sicht nicht wirklich wertvoll sein.
Diese Logik führt in eine gefährliche Sackgasse: Je müheloser etwas gelingt, desto weniger wird es als besondere Fähigkeit erkannt. Statt Stolz zu empfinden, entstehen Selbstzweifel. Ist man sogar gut in vielen unterschiedlichen Bereichen, kann es ja schon wieder nichts Besonderes sein.
3. Intelligenz, die sich „falsch“ anfühlt
Hochbegabte Menschen empfinden oft intensiver – nicht nur kognitiv, sondern auch emotional. Die Verbindung zu Hochsensibilität beschreiben wir in diesem Artikel. Viele Frauen berichten, dass sie sich „anders“, „zu viel“ oder „nicht zugehörig“ fühlen. Doch anstatt diese Besonderheit als Ressource zu sehen, wird sie als Makel erlebt.
Hinzu kommt: In unserer Gesellschaft ist Hochbegabung oft mit einem bestimmten Bild verbunden – logisch, analytisch, sachlich … und meist männlich. Viele Frauen erkennen sich darin nicht wieder. Ihre Art zu denken ist oft vernetzt, intuitiv, ganzheitlich – und bleibt damit im klassischen Begabungsverständnis unsichtbar.
4. Fehlende Vorbilder, fehlende Worte
Wie viele offen hochbegabte Frauen kennst du persönlich oder aus den Medien? Wahrscheinlich nur wenige. Es fehlt an Frauen, die selbstbewusst sagen:
„Ja, ich bin intelligent – und das ist nichts, wofür ich mich schämen muss.“
Das macht es schwer, sich selbst in der eigenen Begabung zu erkennen. Hochbegabte Frauen haben oft kein inneres Bild davon, wie es aussieht, wenn eine Frau begabt ist – weil dieses Bild gesellschaftlich kaum existiert.
5. Das Hochstapler-Syndrom
„Ich habe einfach Glück gehabt.“
„Andere überschätzen mich total.“
„Irgendwann merkt man sicher, dass ich gar nichts Besonderes kann.“
Diese Gedanken sind typisch für das sogenannte Imposter-Syndrom oder Hochstapler-Syndrom – ein Phänomen, das bei hochbegabten Frauen besonders häufig auftritt. Trotz objektiver Erfolge glauben sie, nicht gut genug zu sein. Ihre Begabung wirkt wie ein Zufall, nicht wie etwas, das zu ihnen gehört.
Über das Hochstapler-Syndrom berichten wir in diesem Beitrag oder in diesem Beitrag ausführlicher.
6. Unentdeckt, unerkannt, unterfordert
Viele hochbegabte Frauen werden nie als solche identifiziert. Sie fallen in der Schule nicht auf – weder durch schlechte Leistungen (weil sie oft trotzdem gute Noten schreiben), noch durch auffälliges Verhalten (weil sie angepasst sind). In der Mehrheit sind sie vom Persönlichkeitstyp eher introvertiert. Ihre Begabung bleibt still, verborgen, übersehen.
Und weil niemand es sieht, sehen sie es selbst auch nicht.
Was hilft?
- Anerkennung der eigenen Biografie: Rückblickend lässt sich oft erkennen, dass man „anders“ gedacht oder empfunden hat als andere – das kann ein erster Schritt zur Selbstannahme sein.
- Austausch mit Gleichgesinnten: Hochbegabte Frauen profitieren stark vom Kontakt zu anderen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
- Neue Rollenbilder: Es braucht mehr Frauen, die offen mit ihrer Begabung umgehen und so anderen den Weg ebnen.
- Raum für Selbstwahrnehmung: Hochbegabung muss nicht laut oder akademisch sein. Auch emotionale Tiefe, schnelles Denken, Kreativität oder moralische Sensibilität sind Ausdruck von Begabung.
Hochbegabung bei Frauen ist oft unsichtbar – nicht, weil sie nicht da ist, sondern weil sie sich versteckt. Hinter Bescheidenheit, Perfektionismus, Selbstzweifeln und gesellschaftlichen Erwartungen.
Es ist Zeit, dieses Bild zu ändern.
Denn: Wer sich seiner eigenen Fähigkeiten bewusst ist, kann sie nicht nur für sich selbst nutzen – sondern auch für andere.
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